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Im Fußball müssen diejenigen, die etwas Neues anstoßen wollen mit dickköpfigen Reflexen leben – so ist es auch nun mit dem Videobeweis, eine technische Hilfe für den Schiedsrichter, die auch einige andere Sportarten nutzen. Die Kritiker wehren sich mit Händen und Füßen und fürchten nicht weniger als die „Entmenschlichung“ des Fußballs.

Schauen wir uns ihre Argumente einmal genauer an: Erstens, nennen wir sie die „Wembley-Tor-These“, lebe der Fußball von Fehlern und den Diskussionen darüber. Wirklich? Gut, der Fußball lebt (zum Teil) von Fehlern der Spieler. Aber auch von denen der Schiedsrichter? Das wäre arm, wenn seine Anziehungskraft davon abhinge. Ich halte das Gegenteil für wahr: Je besser der Schiedsrichter, desto freier kann sich ein Spiel entfalten.

Zweitens würde sich der Profifußball von der Basis entfernen. Lassen wir mal an dieser Stelle die Frage offen, ob er das nicht schon auf anderen Ebenen längst getan hat (Stichworte Kommerzialisierung, „Fifaismus“). Gerade in Sachen Spielleitung ist das ohnehin schon der Fall. In den untersten Klassen, das bedaure ich Woche für Woche, gibt es zum Beispiel keine Linienrichter. Außerdem denke ich, dass wir Amateurfußballer damit klar kämen, wenn in der Bundesliga technische Hilfsmittel angewendet würden, die uns nicht zur Verfügung stehen. Um nicht zu sagen: Ist uns doch egal.

Drittens könne man auch mit dem Videobeweis keine Fehlerfreiheit gewährleisten. Jüngst hat der renommierte Schiedsrichter Markus Merk nach seiner vermeintlich falschen Abseitsentscheidung im Spiel Werder Bremen gegen Borussia Dortmund, die er während des Spiels auf der Videoleinwand leidend beobachten musste und die das Bremer Führungstor zur Folge hatte, ein Konzept zur Einführung des Videobeweises angekündigt (allerdings nur angekündigt) – als begrüßenswerte Hilfe für den Schiedsrichter und seine Assistenten. Doch Merk ist von seiner Zunft bereits vor der Veröffentlichung zurückgepfiffen worden; forsch ablehnende Stimmen seiner Kollegen sind zu vernehmen. In der Schiedsrichter-Zeitung des DFB (im pdf ab Seite 12) legt nun Ex-Schiri und „Bild“-Redakteur Lutz Lüttig nach intensiver Analyse aller TV-Bilder dar, dass gerade das Tor gar nicht so eindeutig abseits gewesen ist wie es im Fernsehen zunächst aussah. Der Videobeweis, wenn er denn angewendet worden wäre, hätte hier vermutlich zu einem falschen Ergebnis geführt. Doch ob dieses eine Beispiel aussagekräftig genug ist, um die Funktionstüchtigkeit des Videobeweises zu widerlegen? Die Frage muss doch lauten, ob das neue technische Hilfsmittel in der Lage ist, die Fehlerquote bei wichtigen Entscheidungen deutlich zu senken; kein Befürworter erwartet, dass Fehler mit Hilfe von Kamerabildern ausgeschlossen würden. Man möchte ja auch nicht auf Linien- oder gar Schiedsrichter verzichten, nur weil auch sie Fehler machen.

Ihre Widerstände lassen darauf schließen, dass Schiedsrichter nicht bereit sind, Befugnisse abzugeben. Merk würde es übrigens nicht mehr betreffen, denn er wird, so liest man nun, am Ende der Saison zurücktreten – eine Ankündigung, die erstaunlich wenige Reaktionen nach sich gezogen hat. Eigentlich hätte man damit rechnen können, dass seine Chefs und Kollegen ihn, den Leiter des letzten EM-Finals, bitten, ein letztes Jahr dranzuhängen, bevor er das Pensionärsalter für Schiris erreicht.

Viertens würde, entgegnet Schiedsrichterfunktionär Volker Roth, der Spielfluss zerstört. Das ist nicht so ohne weiteres von der Hand zu weisen. Spielunterbrechungen machen es einer Mannschaft schwer, den Gegner unter Druck zu setzen. Von Unterbrechungen würde das Team profitieren, das auf Verteidigung setzt, etwa das führende. Es könnte also die Attraktivität des Spiels leiden. Zweifellos das stichhaltigste Argument der Gegenseite.

Skepsis gegenüber dem Videobeweis ist angebracht – zumal der Einwand berechtigt ist, dass Schiedsrichter ohne Zeitlupe so viele Fehler nun auch wieder nicht unterlaufen. Warum also mit großem Aufwand und einige Risiken in Kauf nehmend eine neue Technik einführen, um einen möglicherweise geringen Ertrag zu erlangen?

Doch gab es nicht mal die Akte Hoyzer? Ist ja nur ein Einzelfall. Und kommt nie wieder vor. Heißt es. Aber mit dieser Schwarzes-Schaf-Beschwichtigung seitens des DFB und der Schiedsrichter gebe ich mich nicht zufrieden. Mit dem Videobeweis hätten es Betrüger wesentlich schwerer; auch der Heimschiedsrichterei, einem geleugneten, aber existierendem Ärgernis könnte man vorbauen. Und der Videobeweis würde ein Dilemma abschaffen: Alle Welt sieht, vor dem Fernsehschirm oder gar im Stadion, dass das ein Elfmeter oder Abseits war – nur derjenige, der es zu entscheiden hat, muss dumm bleiben. Und sich am Ende beschimpfen lassen.

Warum sich also so vehement gegen eine mögliche Verbesserung wehren, warum nicht mal probieren? Die Fifa, die das ja zu entscheiden hat, sollte eine Testphase bei einem Jugendturnier oder in unteren Ligen durchführen. Mit einem maßvollen, begrenzten Einsatz, zum Beispiel eine Intervention pro Halbzeit und Team, könnte der Videobeweis zum Hilfsmittel werden, das die Fehlerquote im Milliardengeschäft Fußball reduziert – und seine Anfälligkeit für Schiedsrichterbestechung.

Wie sehen Sie das, liebe Leser? Sagen Sie mir Ihre Meinung!

10 Kommentare

  1. Max Diderot schrieb am 26. April 2008:

    Der Videobeweis wäre ja nach dem aktuellen technischen Standard ein beinahe antiquiertes Verfahren. Es gäbe probatere Möglichkeiten – i.e. RFID-Chips (Radio Frequency Identification). Diese könnten in den Ball und die Tore implementiert werden und die Schiedsrichter erhalten ein optisches und/oder akustisches Signal. Aber nur die beteiligten vier (in Bälde fünf) Unparteiischen.
    Einige Klubs, auch Bundesligavereine besser: -unternehmen, sind ja schon dazu übergegangen ihr Spiel analytisch zu erfassen, um daraus Schlüsse für Taktik und Leistungsdiagnostik ziehen zu können. Ob ein ähnliches Verfahren auch für Schiedsrichter praktikabel wäre, könnte ich mir zumindest vorstellen.
    Nach meinem Empfinden sollte es darum gehen, die Referees möglichst aus einer etwaigen Schusslinie zu nehmen. Warum? Fußballer, Trainer und Vereinsfunktionäre fallen nach einem Match nicht unbedingt dadurch auf, dass sie ein Ausbund subtiler, logischer Reflexionen sind. Vieles von dem, was nach einem Spiel an Meinungen kundgetan wird, landet doch auf einem imaginären Scheiterhaufen der Phrasen. Und wenn die Erregung erst einmal vorhanden ist, spiegelt sich jenes Verhalten wider, das aus dem gemeinen Leben bekannt sein dürfte: Es ist immer leichter, knapp unterhalb der Gürtellinie jemanden (hier die Schiedsrichter) zu beleidigen als eine gesamtheitliche Betrachtungsweise (der sogenannte Schmetterlingseffekt) anzustellen.

  2. Endo schrieb am 27. April 2008:

    Am Häufigsten treten die Fehlentscheidungen, bei denen immer wieder der Videobeweis gefordert wird, doch beim Abseits auf. Nur ist das oft eine Spielsituation, in der noch gar nicht so viel passiert ist. Läuft das Spiel weiter, hat der Spieler vielleicht freie Bahn aufs Tor. Wird aber abgepfiffen, hilft ihm auch der Videobeweis nicht mehr, weil die Chance vorbei ist.
    Daher sehe ich die Anwendbarkeit sehr in Frage gestellt. Sicherlich gibt es aber andere Situationen, in denen es mehr Sinn macht. Einem Testlauf würde ich mich jedenfalls nicht verwehren. Danach kann man ja immer noch alles verwerfen und so weiter machen wie bisher.

  3. riovermelho schrieb am 28. April 2008:

    Wenn zumindest erst mal eine Torkamera eingeführt würde, wäre das schon mal ein Schritt in die richtige Richtung. Ein weiterer noch wichtigerer Schritt ist die Abschaffung oder Modifizierung des passiven Abseits.

  4. Oliver Fritsch schrieb am 28. April 2008:

    @riovermelho: Inwiefern? Wie sollte man das passive Abseits ändern?

  5. riovermelho schrieb am 28. April 2008:

    Wer sich auch nur ansatzweise in Richtung Ball bewegt ist nicht passiv und beeinflußt die Gegenspieler.

    Passiv Abseits ist man m.E. nur dann, wenn man sich bewußt passiv verhält, z.B. durch Stehenbleiben, Abwenden oder durch eine in der Regel beschriebene Geste oder Handzeichen.
    Außerdem sollte die Regel soweit geändert werden, daß man im Strafaum niemals passiv sein kann.

  6. Endo schrieb am 28. April 2008:

    @riovermelho

    Ein Spieler ist nach einer Flanke beim Zweikampf gestürzt und liegt/sitzt am Boden oder steht gerade auf, am Rand des 5m-Raums, im (offensichtlich passiven) Abseits. Ein Mitspieler bekommt den Ball, zieht ab und trifft. Pfeifst du ab?
    Ich finde, die Passivregelung hat schon ihren Sinn, auch im Strafraum.

  7. Easyfunk [welt-hertha-linke] schrieb am 28. April 2008:

    Die These, die du am stärksten machst, die Unbestechlichkeit der Torkamera (um Dieter Hoeneß frei zu zitieren), kann empirisch gesehen tatsächlich nicht aufrechterhalten werden. Denn auch die Kamerabilder müssten mit einem Computer aufwendig berechnet werden, um eindeutige Sicherheit geben zu können. Dafür fehlt es an Zeit. Ein „einfacher“ Blick auf auf einen Monitor ist ebenso trügerisch, wie ein geschulter Blick des Schiedsrichters.

    Die Folge wäre eine reine Verlagerung des Problems auf eine technische Ebene. Und da werden dann erstens ganz andere Diskussionsthemen herangeführt, die wirklich wenig mit dem Fußball zu tun haben. Zweitens ergeben sich dann ganz andere Möglichkeiten der Manipulation, nämlich auf technischer Ebene, die dann auch noch kontrolliert werden müssten. Das hat dann mit Fußball wirklich nichts mehr zu tun.

    Ich bin sicherlich kein Dogmatiker in der Frage technischer Neuerungen, aber es gibt in unserer Gesellschaft einen Technik(aber-)glauben, den es zu hinterfragen gilt. Und eben diese Reflexion fehlt in deinem Beitrag (ebenso, wie in den meisten anderen Beiträgen anderer Autoren zum Thema).

  8. riovermelho schrieb am 28. April 2008:

    @endo

    ein anderer Fall:

    der Stürmer steht kurz hinter der Mittellinie zentral im passiven Abseits. Der Ball wird nach außen gespielt, nach vorne getrieben und in die Mitte gepaßt.
    Der Stürmer in der Mitte steht schön frei, er hatte ja einige Meter Vorsprung vor dem Innenverteideiger, und macht das Tor, weil er ja so schön passiv war.

    Macht das Sinn? Ich finde nein.
    Um alle diese Interprätationsmöglichkeiten auszuschließen wäre es am Besten diese Regel komplett abzuschaffen. Abseits ist Abseits, egal ob passiv oder nicht.

  9. Martin schrieb am 28. April 2008:

    Ich denke, Du darfst von der Oberliga Hessen gar nichts erwarten. Da haben seit Jahren Trainer das Sagen, die sich gegenseitig auf die Schulter klopfen, im Kreise die Vereine tauschen – und kein einziges Mal über den Tellerrand schauen. Eintracht Wetzlar – bah, denen sollte endlich jemand das Eintracht im Namen verbieten.
    Die einzige große Ausnahme, die ich dieses Jahr sah, ist Wehen II. Die spielen einen Superball, systematisch und schnell. Der Trainername ist etwas kompliziert, aber ich habe ihn mir gemerkt, weil man von dem noch hören wird, denke ich: Kosta Runjaic (oder Runajic – habe es doch schon wieder vergessen). Ein junger Kerl. Wenn man die Mannschaft sieht, weißt du, was der Trainer kann.

  10. Ditschi schrieb am 28. April 2008:

    Eines vorweg: eine Art subjektives Recht jeder Mannschaft, Beweis per Video zu fordern (z.B. einmal pro Halbzeit), lehne ich ab. Dies wäre für den Fußball systemwidrig, und dass dieses in anderen Sportarten bereits existiert, ist für mich kein Argument.
    Allerdings ist auch der Videobeweis systemwidrig, erscheint mir aber deshalb überlegenswert, weil sich wegen der immensen Veränderungen des Sports und seines Umfeldes die Tragweite von Schiedsrichterentscheidungen dramatisch vergrößert hat: Ein Pfiff (oder ein ausbleibender Pfiff) entscheidet nicht mehr bloß über Sieg oder Niederlage im rein sportlichen Sinn, sondern kann unter Umständen auch erhebliche wirtschaftliche Folgen für Verein und Spieler haben. Den Videobeweis einzuführen, ist deshalb aus meiner Sicht zu befürworten, weil damit die Wahrscheinlichkeit, dass mehr richtige und weniger Fehlentscheidungen gefällt werden, steigt. Das würde bedeuten: mehr (sportliche und wirtschaftliche) Gerechtigkeit für Vereine und das (Millionen-)Publikum, das nach dieser Gerechtigkeit giert. Aber: wir brauchen verlässliche Kriterien, auf welche Weise und in welchen Fällen der Videobeweis zum Einsatz kommt. Deshalb müssen die vielen denkbaren Varianten vernünftig diskutiert und lange genaug getestet werden. Schnellschüsse wären hier kontraproduktiv.

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