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Ein fast ausnahmslos emphatisches Vorrundenfazit aus dem Fernsehsessel: Diese EM ist bislang ein Spektakel. Die meisten Mannschaften spielen mit viel Herz und Mut, und das schöne ist: Sie haben damit Erfolg. Wir haben spannende, schöne, faszinierende Spiele gesehen. Meine persönliche Top Five in umgekehrter Reihenfolge: Spanien-Russland (4:1), Rumänien-Italien (1:1), Holland-Frankreich (4:1), Tschechien- Türkei (2:3) und Schweiz-Türkei (1:2).

Die Teams, die kontrollierten Fußball spielen, sind zum Großteil ausgeschieden: Die Anti(k)fußballer aus Griechenland stritten sich mit den Schweden darum, wer am einschläferndsten spielt? Das Team von Otto „Zementidis“ Rehhagel gewann wenigstens diesen Titel. Die Große Nation Frankreich hat den letzten Trend verschlafen, sein Trainerdarsteller Raymond Domenech hat auf die satten Alten gesetzt, statt auf die hungrigen Jungen. Zudem fragt man sich, wie sich dieser Esoteriker im Amt halten konnte. Es kursiert das Gerücht, dass er Torjäger David Trezeguet deswegen nicht nominiert habe, weil er das falsche Sternzeichen hat. Das schlimme ist: Man traut Domenech dieses Auswahlkriterium zu.

Die Rumänen schienen mit Platz 3 in der „Todesgruppe“ zufrieden und damit, dass sie von Holland, Frankreich und Italien nicht die Hütte voll bekommen haben. Den Polen ist zu sagen: Ein guter Tormann (Artur Boruc), ein Brasilianer (der eingebürgerte Guerrero) und gute Fans sind zu wenig fürs Viertelfinale. Petr Cech, der tschechische Riese im Tor, schrumpfte leider im entscheidenden Moment auf Zwergengröße.

Den Österreichern hat gar nicht so viel gefehlt, und ihre Understatement-Falle hätte zugeschnappt. Nur drei Gegentore, und zwar einen Elfmeter, ein Abseitstor und Michael Ballacks Rakete – das kann sich sehen lassen. Bloß, im Angriff ist’s nicht mehr als Regionalliga-Niveau. Die Schweizer sind zu brav, möchte man meinen und heißt es nun allerorten. Aber das stimmt nur halb. Sie hatten wirklich Pech (Stichwort Alex Frei), und ihr Auftritt gegen die Türken war zwar fehler-, aber äußerst mannhaft.

Italien trat zunächst, völlig untypisch, ohne Abwehr an, dafür, gar nicht so untypisch, stürmisch. Luca Toni müsste eigentlich die Torschützenliste anführen. In ihrer Lieblingsposition, mit dem Rücken zur Wand, haben sie es gerade noch geschafft, im Turnier zu bleiben, wo sie nun Angst und Schrecken verbreiten. Selbst bei den Spaniern, die gewohnt ballsicher agieren, doch diesmal auch Stürmer dabei haben: Auf David Villa (vier Tore) und Fernando Torres (ein Tor) werden die Italiener im Viertelfinale ein Auge haben müssen. Ein großes Duell steht bevor.

Die Holländer, denen ich „Experte“ das Vorrundenaus vorausgesagt hatte, bezaubern den neutralen Fan mit Filetstücken an Konterfußball und Toren vom anderen Stern. Nun fürchten sie selbst, dass ihre Frühform, die viele von uns zu „Gelegenheitsholländern“ (Financial Times) macht, ein traditionell schlechtes Zeichen ist. Gegen die Russen sollten sie sich auch hüten. Sie haben im letzten Spiel dank dem ersten Einsatz ihres einzigen Stars Arshavin gegen die Baumstümpfe aus Schweden mit Präzisionsfußball eine Duftmarke gesetzt, mit der nicht unbedingt zu rechnen war.

Die Kroaten haben drei Siege zu verbuchen, ihr Trainer Slaven Bilic scheint eine Einheit geformt zu haben, die in diesem Turnier noch viel erreichen will und vor keinem Gegner erschrecken wird. Nun geht’s gegen die Stehaufmännchen aus der Türkei, die ihr Herz in die Hand nehmen können. Am Ende standen nach zwei Adrenalin- oder Wasser-Fights zwei irrationale Last-Minute-Siege, die im modernen Fußball selten geworden sind. Umso schöner für den Zuschauer.

Die Portugiesen reißen mit ihren Dribbelkünstlern Löcher in alle Deckungen. Cristiano Ronaldo spielt gut, wenn auch nicht so unwiderstehlich wie in der Saison. Doch es gibt noch andere Zauberfüße im Team: Moutinho, Pepe, Simao, und Deco ist wieder da. Wer hätte das gedacht? Dennoch, sie neigen dazu, die Defensive phasenweise zu vernachlässigen. Ob sie wirklich der große Favorit sind? Schön anzuschauen sind sie in jedem Fall.

Noch jemanden vergessen? Ach ja, die Deutschen. Sie sind eine große Enttäuschung. Von allen Viertelfinalteilnehmern haben sie den blassesten Eindruck hinterlassen. Allenfalls gegen die Polen (das einzige Spiel, das ich im Stadion sah) konnte man die Deutschen, zumindest streckenweise, stürmisch sehen. Was ist los mit den Alpha-Tieren Torsten Frings und Michael Ballack? Wie, wann und warum ist aus dem Himmelsstürmer Mario Gomez ein Melancholiker geworden? Ist der Flirt mit Bayern München daran schuld? Jens Lehmann zeigt Symptome des Bahnschranken-Syndroms, Miroslav Klose erleidet einen Rückfall in schüchternste Konfirmandenzeiten, vom Systemfußball ist wenig übrig geblieben. Joachim Löw scheint in Nibelungentreue an seinen Stammspielern festzuhalten, obwohl die es ihm wenig danken. Der Nationaltrainer hat sehr von seinem Status verloren.

Dennoch, so chancenlos, wie es nun überall heißt, ist die DFB-Elf nicht. Es ist Viertelfinale, jetzt geht’s rund. Ob die Spiele so attraktiv bleiben, ob die Mannschaften weiterhin so stürmen? Ich zweifle dran. Aber spannend wird es, und in allen ausstehenden Spielen steht’s mehr oder weniger Fifty-fifty, auch bei den Deutschen. Welch ein Fest, welch eine Freude! Auch ohne Gastgeber. Es lebe die heilige Europameisterschaft!

8 Kommentare

  1. lateral schrieb am 19. Juni 2008:

    Herr Fritsch, wie passt es zusammen erst im indirekten Freistoß über das DSF zu lästern und dann selbst von Chancengleichheit in allen Viertelfinals zu sprechen?

    Ich denke zwar, dass Sie es nicht so phrasendrescherisch von wegen „K.O.-Runde hat eigene Gesetze“ meinen, sondern auf ihre fundierte Analyse stützen. Aber letztendlich wirkt es dann doch wieder wie eine Phrase, wenn Sie Deutschland ohne argumentatorische Absicherung jetzt doch wieder auf annäherndes Portugiesenniveau heben.

    Ich stimme Ihnen zu, dass ab jetzt jede Mannschaft weiterkommen kann. Das hat aber nichts mit vielbeschworenen „eigenen Gesetzen“ der K.O.-Runden zu tun, sondern schlicht und ergreifend damit, dass im Fußball in einem einzelnen Spiel selbst die schlechteste Mannschaft auch mal die beste schlagen kann (gilt eben auch in der Liga).

  2. Manfred schrieb am 19. Juni 2008:

    Bis auf eine Kleinigkeit stimme ich voll und ganz zu.
    Den Satz hier jedoch verstehe ich nicht: ‚Die Kroaten haben drei Siege zu verbuchen, ihr Trainer Slaven Bilic scheint eine Einheit geformt zu haben, die in diesem Turnier noch viel erreichen will und keinen Gegner schrecken wird.‘ Und keinen Gegner fürchten wird, oder?

  3. Oliver Fritsch schrieb am 19. Juni 2008:

    @Manfred: Danke, Sie haben natürlich recht. Ich habs nun geändert.

    @lateral: Fußballprognosen muss man ja nicht immer argumentativ stützen. Ist ja auch viel Gefühl dabei. Dennoch, ich denke, dass manche Schwäche der Portugiesen zurzeit übersehen wird; man staunt nur über ihre Stärken. Ich glaube auch nicht, dass die deutsche Mannschaft noch mal so schlecht spielen wird wie in den letzten beiden Begegnungen. Auch ist es psychologisch (so abgegriffen das klingen mag) eine andere Ausgangsposition als gegen Österreich. Leichter Außenseiter, würd ich sagen.

  4. Max Diderot schrieb am 19. Juni 2008:

    Zu spät oder gar unpassend? In der SZ steht heute ein Artikel des spanischen Sportjournalisten Santiago Segurola, der über den aktuellen deutschen Fußball ansprechend philosophiert. Dass das darin zum Ausdruck kommende Urteil wenig charmant aber stellenweise sehr logisch begründet ist, mag eine der Stärken dieses Essays sein.

    http://www.sueddeutsche.de/sport/weltfussball/artikel/720/181161/

  5. Oliver Fritsch schrieb am 19. Juni 2008:

    Danke, der Text ist schon in der Schublade.

  6. Caspar schrieb am 19. Juni 2008:

    Herr Fritsch,

    wie immer eine mehr als passende und treffende Zusammenfassung! Immer wieder gern gelesen Ihre statements! Freu mich schon auf das Fazit nach dem Spiel heute, und denke dass es das letzte der Deutschen sein wird, verdient auszuscheiden hätten sie es allemal…

  7. ehec schrieb am 19. Juni 2008:

    Auch ich habe Ihren Text mit Vergnügen gelesen, Herr Fritsch, und an dieser Stelle einmal ein dickes Lob für ihre Mühen: informativ, unterhaltsam und (fast) jeden tag gerne aufgeblättert.
    Ich werde mich jetzt mit Spannung dem Spiel der ach so tumben Deutschen gegen klischeehaft trickreiche und geniale Portugiesen widmen, um morgen schön mit DSF-Phrasen um mich werfen zu können. Hoffentlich, denn verdient hätte es trotz des teilweise hasenfüssigen Auftretens die deutsche Nationalelf schon, Herr Caspar.

  8. 12. Mann schrieb am 20. Juni 2008:

    Eine treffende Zusammenfassung der Vorrunde, Herr Fritsch. Großes Lob.
    Und die von Ihnen angesprochenen Defensivschwächen der Portugiesen haben die Deutschen ja gerade sehr schön offen gelegt. Es ist schon erstaunlich, dass zwei der weltbesten Innenverteidiger trotzdem noch keine gute Verteidigung garantieren. Und deren Torhüter scheint wirklich einen Schweinsteiger-Komplex zu haben. Anders ist es ja nicht zu erklären, dass Schweini gegen Ricardo immer zur Höchstform aufläuft.

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