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drsoccer EM 2.0

von Dr. Soccer

Finaltag, draußen wird es langsam hell – Zeit für ein kleines EM-Fazit. Nein, nicht in sportlicher Perspektive, das überlassen wir den Professionellen und denen, die wirklich Ahnung haben. Hier geht es um die EM im Internet – denn in ähnlicher Weise wie Wahlen die politische Online-Kommunikation beschleunigen, funktioniert das Turnier als Katalysator für das Schreiben (und Reden) über Fußball. Ein paar Einwürfe zu Weblogs, Live-Blogging, YouTube und StudiVZ.

Weblogs sind die neuen Sportteile

Klar, das muss man hier eigentlich nicht erwähnen (anderswo aber sehr wohl). Für fundierte Analysen zum Spielgeschehen sind versierte Leser nicht mehr auf eine Handvoll Tageszeitungen beschränkt (die zudem manchmal Probleme mit dem Redaktionsschluss haben), sondern können aus mindestens einer neuen Handvoll Match-Exegeten wählen. Die Anmerkungen von Trainer Baade, Kai Pahl, Oliver Fritsch und anderen Online-Experten lassen sich durchaus mit den Äußerungen einer Handvoll Qualitätszeitungen vergleichen (lässt man die Exklusivitäten wie Vor-Ort-Berichte oder Interviews außen vor). Gelegentlich meldet sich mit Jürgen Kalwa auch der wohl einflussreichste deutsche Sportblogger zu Wort – zwar ist die EM in seiner American Arena nur ein kleiner Beiklang, doch hat er ein waches Auge für die Professionalisierungstendenzen dieses neuen Sportjournalismus.

Bemerkenswert ist bei dieser Verbreiterung des sportiven Lesezirkels außerdem, dass sich in den Fußballblogs eine ganze Reihe von Kommentatoren/innen aus der „zweiten Reihe“ in den Vordergrund schreibt. Als Beispiel mag die vorzügliche Miniatur „Holland Ltd.“ von „Max Diderot“ gelten (Kommentar #5 zum Spiel Niederlande vs. Russland hier im Hause), deren Tonfall streckenweise an die Edel-Reportagen von Marcel Reif erinnert.

Live-Blogger sind die neuen Reporter

Über das Elend des öffentlich-rechtlichen Live-Kommentarwesens ist schon genug geschrieben worden – hier nur kurz der Verweis auf die Alternativen: Live-Blogs noch während des Spiels erlauben eine gemeinschaftliche Auseinandersetzung mit dem gerade laufenden Match, zugleich eröffnen sie „Nur-Lesern“ eine unterhaltsame Informationsquelle zur Spielbegleitung. Beim „Marktführer“ dieser neuen Kommentarform, allesaussersport.de, finden sich auch denkwürdige Sätze wie dieser: „Wir haben keine Deutschlandfahne. Wir werden stattdessen gleich nach Abpfiff freudestrahlend und gröhlend das Grundgesetz übern Balkon halten.“ (aus dem Live-Blog zum Viertelfinale Deutschland vs. Portugal).

Wohlgemerkt: hier geht es um Live-Blogs und nicht um Live-Ticker, das Standardformat der „Qualitätspresse“ im Internet. Das „Aufbrechen“ der Reportage durch zusätzliche Kommentare macht den Reiz dieses neuen Formats aus – die Probezeit läuft noch.

Mashups und Dokumentationen auf YouTube

Dass sich mit YouTube ein machtvoller neuer Player im Bereich der audiovisuellen Selbst- und Fremddarstellung entwickelt hat, wurde auch beim ZDF bemerkt. Doch welchen „journalistischen Mehrwert“ der regelmäßig von KernerKloppMeier präsentierte Clip-Aufschnitt hatte, bleibt unklar (leider gilt dies auch für große Teile des übrigen „Experten“-Kommentars). Neben bisweilen skurrilen EM-Songs Marke Eigenbau oder manchmal etwas langatmiger Nachahmung wichtiger Spielszenen finden sich dort aber auch zahlreiche Dokumentationen von public viewing-Erlebnissen und verwackelten Fahrten im Autokorso. Diese Sorte Beitrag ist „medienhistorisch“ ungleich spannender, formieren sich hier doch erste Elemente des kommunikativen Gedächtnisses der Mediensportgesellschaft (Erinnerungsforscher, antreten!).

Flaggenparade auf StudiVZ

Auch anderswo im Social Web sind Vergemeinschaftungsprozesse zu beobachten: während die nationalfarbigen Autofähnchen längst fester Bestandteil des Real-Life-Fantums geworden sind, gibt es nun auch Äquivalente im digitalen Sozialwesen. Die mitgliederstärkste Social Network Site Deuschlands, StudiVZ, kennt seit Anfang Juni ein neues Tool zur Unterstützungsanzeige: durch die Mitgliedschaft in der Gruppe „EM 2008 – Deutschland zeigt Flagge“ geben sich StudiVZ-User als Fans der Nationalelf zu erkennen. Im Morgengrauen des Finaltags zählte diese Gruppe immerhin 337.802 Mitglieder – nach der Registrierung kann das für gewöhnlich individuelle Profilbild durch eine Deutschlandfahne (in korrekter Farbreihung) ersetzt werden.

Ob dies wirklich eine „virtuelle Stadion-Choreographie“ ist (Gruppen-Eigenwerbung), mag angezweifelt werden. Klar ist aber, dass es dort einen europäischen Supporter-Wettstreit gibt: nur wenige Tage nach der digitalen Beflaggung in Schwarz-Rot-Gold zogen die Türkei (ca. 5.000 Mitglieder), Österreich (2.800), Russland (1.750), Kroatien (500), Griechenland (600) und auch Finalgegner Spanien (700) nach.

Schlusspfiff: journalistisches Ego-Shooting?

Was bleibt also von der EM in Weblogs, auf YouTube, in sozialen Netzwerken? Wenn man dem flüchtigen Augenschein trauen mag, reichlich neue Impulse für eine Sportberichterstattung, die nicht mehr nur auf die etablierten Redaktionen, Erscheinungsorte und -medien festgelegt ist. Die EM im Web 2.0 hat schon jetzt einige neue Anlaufstellen für die interessierte Online-Leserschaft hervorgebracht, die in Bookmark-Dateien, Feed-Readern und vermutlich auch Zugriffszahlen ihre Spuren hinterlassen wird.

Tobias Moorstedt hat in der SZ vom 28. Juni einen der bemerkenswertesten Fußball-Werbespots der letzten Jahre beschrieben, „Erreich-dein-nächstes-Level“ von Nike. Dabei heißt es:

„Der Werbespot scheint mit der begrenzten Länge, den schnellen Schnitten und der lauten Musik das einzige Bild-Medium zu sein, dem es gelingt, den Fußball adäquat abzubilden. Der britische Regisseur Guy Ritchie (…) lässt in dem Ego-Shooter-Spot von Nike den Glamour und die Schönheit links liegen und inszeniert das Kahn“sche Paradigma des Immer-Weiter, zeigt die Frustration als Motivation, den Kampf, die Ãœbelkeit nach dem Zirkeltraining, den ausgeschlagenen Zahn unter der Dusche, er zeigt den Trash-Talk zwischen Gegnern und die derbe Liebe unter Mannschaftskameraden und erzählt so in wenigen Sekunden mehr über das ewige Spiel als der Kinofilm „Das Wunder von Bern“ in 90 Minuten.“

Vielleicht können ambitionierte Blogger im Verbund mit den anderen Formaten des sportiven Web 2.0 ja etwas ähnliches für den Fußball-Journalismus leisten: mehr erzählen als ein Pfund Tageszeitungspapier und ein paar Kilo Videobänder. Das wäre schön.

PS: Spielt Ballack heute abend eigentlich? Mal sehen, was Technorati dazu sagt…

11 Kommentare

  1. Oliver Fritsch schrieb am 29. Juni 2008:

    Zwei Fragen an Dr. Soccer und an alle:

    1. Mich würde noch Ihre Meinung zu den Animationsfilmen zu Spielszenen interessieren, die viele Redaktionen zeigen (etwa stern.de und Spiegel Online) statt echten Spielszenen (wie hier von Video-Portalen wie myvideo, youtube, sapo.pt, die ich zu jedem Spiel einbinde).

    2. Deutsche Redaktionen sind im Internet der englischen und amerikanischen Konkurrenz um Jahre zurück, auch weil sie dem Medium gegenüber nicht aufgeschlossen sind – so sehe ich das und auch der große Kai Pahl. Hat sich durch die EM etwas geändert?

  2. brandy schrieb am 29. Juni 2008:

    Ich habe mir zu Beginn der EM ein wenig das Sportblog der ARD angesehen. Mal abgesehen davon, dass dort rein technisch Angsthasenfußball gespielt wurde (Kommentare wurden bisweilen nach Stunden erst blockweise freigeschaltet, was Diskussionen erschwert), war ich auch inhaltlich ein wenig enttäuscht. Von dem bei aller gewollten Lockerheit doch recht offiziösen Ton dort. Vor allem aber darüber, dass der Vorteil, den man dort gegenüber uns Glotzenfans hat, so wenig genutzt wurde: es kamen einfach zu wenig Insiderinformation aus dem Nähkästchen. Und die Kommentatoren: irgendwo zwischen devot und aufsässig, aber nicht halb so inspirierend wie hier.

    Die Deutungshoheit bei dieser EM lag für mich woanders. Unter anderem beim Direkten Freistoß. Wozu nicht nur Oliver Fritsch, sondern auch viele scharfsinnige Kommentatoren beigetragen haben. So wurde dieses Blog hier während der EM zu so etwas wie meinem Ascona. Dafür herzlichen Dank.

  3. nedfuller schrieb am 29. Juni 2008:

    Mein Verhalten nach dem Spiel hat sich geändert: zuerst die blogs durchstöbern, kommentieren, lachen, aha Erlebnisse verdauen, usw.
    Erst danach auf SPON, sz.de und faznet

    Ich hoffe dies hört nicht auf, wenn die Bundesliga beginnt.
    Bitte weitermachen.

  4. Norbert Schell schrieb am 29. Juni 2008:

    Egal wie die Partie heute Abend gegen Spanien endet, zufrieden sollten wir eigentlich nicht sein mit dem Auftreten unserer Mannschaft bei der EM. Eineinhalb ordentliche Spiele (wobei das Viertelfinale gegen Portugal viel zu gut bewertet wurde) und bis jetzt drei unterdurchschnittliche Spiele, in denen wir kaum Torchancen hatten und richtigen Rumpelfußball aus unseligen Vogts- und Völler-Zeiten demonstrierten. Vor allem von der Löw’schen Philosophie aus alten Klinsmann-Zeiten ist eigentlich überhaupt nichts zu sehen, kein schnelles Spiel nach vorne, keine gute Spieleröffnung aus der Abwehr, wo Mertesacker und Metzelder phasenweise wie eine Kopie von Wörns und Ramelow auftreten. Wo bleibt der eigene Anspruch, Herr Löw?? Ich jedenfalls kann mich an kaum eine Partie in den letzten Jahren erinnern, in der unsere Mannschaft so vorgeführt wurde wie über weite Strecken von einer ersatzgeschwächren türkischen Elf, die uns in nahezu allen Belangen des modernen Fußballs turmhoch überlegen war.

  5. drsoccer schrieb am 29. Juni 2008:

    @Oliver Fritsch:

    Erstmal zu Punkt 1: Ich glaube, die hier genannten Beispiele von Animationen und Videos muss man trennen. Die Pixel-Filmchen à la kicker.tv sind mE nur eine Reaktion auf fehlende Bildrechte – im Wissen, dass eingebundene Videos reichlich Zugriffe erzeugen und es eben genügend Sport-Nerds gibt, die sich auch die klobigste Animation anschauen, wird der kleine Info-Film damit angereichert.

    Der Informationsgewinn solcher „Filmchen“ ist sicherlich arg begrenzt und die Vermittlung des Spielereignisses ist nicht mit den „echten“ Clips der Videoplattformen vergleichbar. Perspektivisch könnte das aber vermutlich ja auch ein Problem sein, nämlich wenn sich die Rechteinhaber aktiver für die Kontrolle ihrer teuren Bildeinkäufe einsetzen. Wie regelt dieses Problem denn die uns weit überlegene anglo-amerikanische Weblog-Welt?

    Nebenbei: das „bessere“ Nerdtum wäre das Nachspielen oder „Nachbauen“ der Szenen mittels der Engine eines aktuellen Computerspiels. Ein „Football Machinima“ sozusagen…

  6. Honktonk schrieb am 30. Juni 2008:

    Wahrscheinliche sollen die 3D-Filmchen auch eine Wissenschaftlichkeit vortäuschen, die es gar nicht gibt – seht her, der COMPUTER hat für uns errechnet, dass es kein Abseits war!

  7. Linksaussen schrieb am 30. Juni 2008:

    auch bei mir inzwischen standard: nach dem spiel und der wiederholung der wichtigsten szenen (vielleicht nehme ich auch noch das löw-interview mit) wird der fernseher schleunigst ausgeschaltet, denn erkenntnisgewinn gibts da selten. und so gerne ich mir klopps analsyen agucken würde, ich kann es nicht aufbringen, dafür kerner und seine ballermannbühne zu ertragen. lieber zu allesaussersport.de und dort das spiel nachlesen.

  8. trebor schrieb am 30. Juni 2008:

    Wenn ich das gestern schon gewusst hätte wäre ich nach BErlin in die Emmaus-Kirche gefahren, das EM-Finale mit Orgel-Begleitung, das einzige Public Viewing was mir erträglich ist.

  9. Rob schrieb am 3. Juli 2008:

    Die besten Beiträge und Analysen zur EM habe ich bei „Direkter Freistoss“, „allesaussersport“ und im Blog von „101 Great Goals“ gelesen. Das Fernsehen langweilt mich zusehends. Die Onlinezeitung treffen oft nicht die richtigen Themen und nerven immer öfter mit Beiträgen bei denen ich mich durch 20+x Seiten klicken soll.

    Würde mir wünschen, dass die Qualitätszeitungen bei Blogs mitmachen. Themen angehen die nicht von Presse Agenturen oder dem Fernsehen kommen sondern sich gezielt an ein Fachpublikum richten. Blogs wie z.B. „Volk ohne Raumdeckung“ (R.I.P.), „JensWeinreich.de“ oder auch einige politische Blogs zeigen dass man es kann. Davon würde ich gerne mehr sehen.

    Zu 1. Kenne die Animationsfilme aus dem Web leider nicht. Könnte mir aber gut vorstellen ein Spiel in der Form aktueller Fussballmanager PC Spiele anzusehen. Bsp: http://www.youtube.com/watch?v=PK1WgIZt-wc
    Dazu die Möglichkeit die Perspektive einzustellen und die üblichen Analysetools … das wäre hochinteressant.

  10. Das @ ist rund | Blog für den kritischen Fußballfreund | direkter-freistoss.de von coojooxi.com schrieb am 9. Juni 2010:

    […] Aussagen über Auswirkungen und künftige Nutzung machen zu können.Als ausgewiesener Fan neuer Mediensportumgebungen und -formate hat Dr. Soccer nun den Versuch unternommen, mit Hilfe von Twitter an einer neuen Form […]

  11. Jacelyn schrieb am 25. Januar 2020:

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